Das Selbstporträt gehörte über die gesamte Schaffenszeit hindurch zu den Hauptthemen Corinths. Hier konnte er Malweisen ausprobieren und seinem jeweiligen Selbstverständnis nachspüren. Er zeigt sich in diesem Genre in Familiensituationen, mit der Gattin, mit den Kindern, gerne aber auch in Rollen und Posen. Julius Meier-Graefe schrieb 1918 im Katalog der Ausstellung zu seinem 60. Geburtstag: »Corinth war […] Florian Geyer, Simson, Armin der Befreier, gezähmter Hunne« (in: Katalog der 32. Ausstellung der Berliner Secession, Berlin 1918, S. 12). Reine Selbstporträts entstanden in jedem Jahr um seinen Geburtstag am 21. Juli herum und bildeten die lange Reihe der ›Geburtstagsbilder‹, zu der die vorliegende Darstellung aber wohl nicht zu rechnen ist. Corinth schenkte das Bild Ende des Jahres seiner damals zehnjährigen Tochter Wilhelmine. Aus deren Besitz konnte es 1976 erworben werden. Es zeigt Corinth in keiner Rolle und keiner Maskerade. Im Gegenteil, der Maler, halb auf einem Tisch voller Papieren und Pinseln sitzend, wirkt sensibel und von den Kriegsjahren gezeichnet. Der Blick geht aufmerksam in den Spiegel, die labile Schräge des Körpers zwischen den Senkrechten der aufgespannten Leinwand rechts und dem Fenster (?) links vermittelt ebenso einen Eindruck von Verletzlichkeit wie das schüttere Haar und das eingefallene Gesicht. Und doch hatte er beschlossen, gerade diese ehrliche Ansicht seiner Tochter zum Weihnachtsfest 1918 zu schenken, vielleicht aber noch etwas an dem Bild zu arbeiten, denn erst am 5. Januar setzte er seine Widmung auf die Malerei. | Angelika Wesenberg
1976 erworben durch das Land Berlin
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