Die Muttergottes steht auf einer stark beschädigten, wohl auch ursprünglich unregelmäßig geformten Plinthe, die vorn aus einer Mondsichel mit nach unten gekehrtem Männergesicht besteht. Es handelt sich um eine im späten Mittelalter geläufige Anspielung auf die mit Maria gleichgesetzte apokalyptische Frau der Johannes-Offenbarung (Apk 12,1). Ihre rechte Schuhspitze schiebt sich unter dem sehr tief platzierten Knie nach vorn. Ansonsten istjedoch ihr Körperschwung unter dem voluminösen und faltenreichen Gewand kaum erkennbar. Neben anatomischen Unstimmigkeiten wie dem zu tief sitzenden rechten Knie wird die Haltung auch durch die unnatürliche Kombination von ausschwingender rechter Hüfte und rechtem Spielbein verunklärt.
Maria hält das Kind quer vor ihren Unterleib, mehr präsentierend als stützend und darin einem Darstellungstyp folgend, der seit dem späten 14. Jahrhundert in Böhmen, Österreich und Süddeutschland verbreitet war. Sie umfasst dazu das rechte Beinchen und greift unter die rechte Achsel des Kindes, wobei sich ihre Finger in dessen Fleisch eingraben. Der Knabe ergreift mit der linken Hand den mit plissiertem Rand versehenen Schleier, dessen sonderbar verlaufenden Faltenbahnen an dieser Stelle durch die kleinen Finger verursacht zu werden scheinen. Dieses im 14. und 15. Jahrhundert beliebte Motiv ist ein Hinweis auf die Passion Christi, da der Marienschleier nach geläufiger mittelalterlicher Legende mit dem Lendentuch Christi gleichgesetzt wurde.
(Auszug aus: Tobias Kunz, Bildwerke nördlich der Alpen und im Alpenraum 1380 bis 1440. Kritischer Bestandskatalog der Berliner Skulpturensammlung, Petersberg, Michael Imhof Verlag 2019)
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