Die von allen Seiten gut ausgearbeitete, gedrungen wirkende trauernde Muttergottes besitzt eine ausgesprochen geschlossene Kontur. Haltung, Gestik und Mimik sind klar artikuliert und auch aus größerer Entfernung gut zu erkennen. Maria steht auf schlichter polygonaler Plinthe und wendet sich aus fast frontalem Stand allmählich nach rechts, ihrem ehemals dort platzierten gekreuzigten Sohn zu. Die Drehung ist erst in Hüfthöhe spürbar, wird dann aber durch die schräge Haltung des Oberkörpers, die zurückgenommene linke Schulter und das im Halbprofil nach rechts gewendete Gesicht sehr deutlich. Die angewinkelten Arme liegen eng am Oberkörper, die mit geringem Abstand vor der Brust gehaltenen Hände sind verschränkt – eine gleichfalls klar konturierte Trauergeste, die weder durch abgespreizte oder verkrampfte Finger noch durch knochige Gelenke zusätzlich dramatisiert wird.
Das Gesicht mit leicht gesenktem Blick wird umrahmt von einem weißen Schleier mit plissierter Borte; der zuvor ebenfalls über dem Haupt liegende, doch scheinbar soeben zurückgeschlagene Mantel ist noch im Nacken erkennbar. Dem Bildschnitzer war dieses flüchtige Motiv sehr wichtig, er verschob den Mantel unnatürlich weit nach oben, sodass er auch von einem sehr tiefen Betrachterstandpunkt aus noch wahrgenommen werden konnte. Es scheint, als hätte Maria eben noch das Haupt zu ihrem Sohn erhoben, nun aber gesenkt, um über die Bedeutung des Blutopfers nachzudenken.
Die Figur ist durch Faltenführung und leichte Rücklehnung auf starke Untersicht angelegt und rückseitig vollständig ausgearbeitet. Eine Aufstellung auf einem Triumphbalken, als Teil einer Triumphkreuzgruppe, die auch vom Chor aus gesehen werden konnte, ist daher wahrscheinlicher als die in einem weniger hoch stehenden Kreuzaltar.
(Auszug aus: Tobias Kunz, Bildwerke nördlich der Alpen und im Alpenraum 1380 bis 1440. Kritischer Bestandskatalog der Berliner Skulpturensammlung, Petersberg, Michael Imhof Verlag 2019)
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