Selten hat der Name einer Privatperson aus dem Alten Ägypten einen solchen Bekanntheitsgrad erfahren wie der des Bildhauers Thutmosis, dessen einzige Erwähnung sich auf diesem, zunächst unspektakulär aussehenden Fundobjekt befindet. Das anfangs als Fragment eines Gefäßdeckels angesprochene Elfenbeinstückchen verdankt seine Identifikation als Teil einer Pferdescheuklappe den Recherchen von Rolf Krauss und Marianne Eaton-Krauss und kann direkt mit einem Fund aus dem Grab des Tutanchamun sowie mit entsprechenden Darstellungen von Pferdegespannen verglichen werden.
Der bedeutende Fund trat bei den Ausgrabungen entlang der vier großen Baumgruben im Hof des Anwesens von P 47.2 und P 47.3 zutage und wurde im Grabungstagebuch am 17. Dezember 1912 folgendermaßen festgehalten: „Hier wird der ganze Nachmittag an dem großen Brunnen gearbeitet. Nördlich davon werden zwei tiefe Gruben gefunden, die vielleicht früher als Abfallgruben gedient haben. In der westlichen von diesen werden außer einem kl. Alabasterbruchstück und dem Feuersteineinsatz einer Sichel zwei Bruchstücke eines Gegenstandes aus Kupfer gefunden dessen Bedeutung einstweilen noch unklar bleibt. Borchardt, der sich nach dem Mittagessen im Hause verabschiedet, um mit dem 2 Uhr Zug nach Kairo zurück zukehren, erstattet der Grabung noch einen Abschiedsbesuch und konstatiert dabei in dem auf diesem Gegenstand sauber eingeritzten Schriftresten den lang ersehnten Namen unseres Bildhauers –– er heißt Thutmosis. Das Knochenfragment sieht so aus: (es wird also etwa in der skizzierten Weise zu ergänzen sein.) Die Seiten a und b sind im wesentl. vollständig erhalten, wie es bei b und c weiter ging läßt sich nicht mehr feststellen. Die Inschrift lautet „… für den vom guten Gotte Gelobten Vorsteher der Arbeiter und Bildhauer Thutmosis ...“ Auffallend ist es freilich, dass der Mann nicht (wie der bedeutende Oberbildhauer der Teje, Jwtj, Dav. Am. III, 18) Vorsteher der Bildhauer heisst, wie wir es für den Besitzer unseres stattlichen Hauses erwarten sollten. Sollte es am Ende der Name des Mannes sein, der das immerhin nicht schlechte Haus P 47,3 bewohnte und die Oberaufsicht über die umliegenden Werkstätten führte, aber unter den vornehmen Herrn von P 47,2 stand? Der Fundort des Stückes würde auch hierzu passen.“
Obwohl auf den ersten Blick die Identifikation als „Scheuklappenfragment“ noch nicht gelingen konnte, zeigen die Ausgräber bei ihren Schlussfolgerungen große Genauigkeit und Zurückhaltung, insbesondere bei der Zuweisung des Namens an einen der Hausbewohner, und betonen auch, dass Thutmosis lediglich als „Bildhauer“ und nicht als „Oberbildhauer“ bezeichnet wird. Diese Seriosität im Umgang mit dem Stück und der Inschrift ist in der Folgezeit sehr schnell aufgegeben worden, und aus dem „Bildhauer“ wurde – schon von Borchardt lanciert – ein „Oberbildhauer“, womit Thutmosis dann wie von selbst zum Schöpfer der Nofretete-Büste ausgerufen wurde.
Ungeachtet der außerordentlichen Bedeutung des Fundes des Scheuklappenfragmentes, sollten die Fakten bei der Interpretation hier zu größerer Zurückhaltung mahnen. Anderseits wird man an der mittlerweile festgefügten Bezeichnung „Bildhauerwerkstatt des Thutmosis“ wohl nichts mehr ändern können und sollen.
Aus: Seyfried, F., in: F. Seyfried (Hrsg.), Im Licht von Amarna. 100 Jahre Fund der Nofretete, Berlin 2012, S. 396 (Kat.-Nr. 184).
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