Der schöne weibliche Akt, den ein mit dem Pinsel angelegter schwarzer Fond wirkungsvoll hinterfängt, ist nicht nach einem lebenden Modell gezeichnet, sondern konstruiert. Auf der anderen Seite des Papiers erkennen wir, daß aus Rechtecken und vielen Zirkelschlägen alle wichtigen Punkte des Körpers festgelegt wurden. Diese geometrische Konstruktionsmethode ist typisch für die frühere Zeit der Dürerschen Porportionsstudien um 1500, als sein Ziel noch die Erkenntnis der vollkommenen menschlichen Form war. In späteren Jahren, beeinflußt von den endlosen Messungen, die er am lebenden Körper vorgenommen hatte, wechselte seine Methode zu einem komplizierten Modul-System, das von den menschlichen Maßen ausging, und sein Ziel war nicht mehr die Schönheit, sondern das Gesetz, das in allen Körpern, dünnen und dicken, wirksam ist - Es ist erstaunlich, wie viel Würde und Schönheit diese allein auf dem Rechenweg erzielten Menschenfiguren Dürers ausstrahlen, wohl zu erklären aus dem frommen Bemühen, den göttlichen Schöpfungsplan nachzuvollziehen, und dies am Beispiel der Krone der Schöpfung, dem Ebenbild Gottes.
Text: Hans Mielke in: Das Berliner Kupferstichkabinett. Ein Handbuch zur Sammlung, hg. von Alexander Dückers, 2. Auflage, Berlin 1994, S. 112f., Kat. III.32 (mit weiterer Literatur)
de