Der Stift erzeugt ein weiches, höchst lebendiges Spiel huschender Schatten, das in der Zeichenkunst des Quattrocento ungewöhnlich ist. An Nase, Kiefer, Schläfe und Kehle verstärkt aufgetragen und in Bahnen verwischt, wird die Kreide zur Modelliermasse eines Künstlers, der - wie Verrocchio - besonderen Wert auf den plastischen Eindruck legte. Umrisse und wichtige Binnenmerkmale sind zum Zweck der kongruenten Übertragung auf ein anderes Papier, einen Karton oder die Leinwand durchlöchert worden. Eine konkrete Bestimmung der Kopfstudie ließ sich allerdings bisher nicht vornehmen. Der offene, strahlende Ausdruck des jugendlichen Gesichts führte Berenson zu der Annahme, es handele sich um die Vorarbeit für einen adorierenden Engel auf einem unbekannten Madonnenbild Verrocchios, das nur wenig später als sein Gemälde in der Berliner Galerie entstanden sein müßte, welches Passavant um 1468/70 datiert (Passavant [Verrocchio, Skulpturen, Gemälde und Zeichnungen, London] 1969, S. 50, Abb.). Trotz der Einschränkung Adornos kann die Zuschreibung an Verrocchio durch den Vergleich mit einer Reihe ähnlicher, ebenfalls punktierter Kopfstudien, zu denen beispielsweise die »Herablickende Frau« in Oxford zählt, als gesichert gelten [...]. Ganz abwegig ist die Sammleraufschrift »da Vinci« dennoch nicht. Die jeweiligen Anteile der berühmt gewordenen Schüler Leonardo da Vinci und Domenico Ghirlandajo am malerischen und zeichnerischen Werk Verrocchios um 1470/75 sind in der Forschung noch heftig umstritten.
Text: Hein-Th. Schulze Altcappenberg in: Das Berliner Kupferstichkabinett. Ein Handbuch zur Sammlung, hg. von Alexander Dückers, 2. Auflage, Berlin 1994, S. 246-247, Kat. V.4 (mit weiterer Literatur)
Entstehungsort stilistisch: Florenz
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