Schönste erhaltene Zeichnung Schongauers. Madonnentyp und Schönheitsideal zeigen Kenntnis und Verehrung für den großen niederländischen Maler Rogier van der Weyden, die variable Art der Federführung verrät vollkommene Selbständigkeit des jungen Künstlers. Selten findet man in der Zeichenkunst den Helligkeitsgrad des Federstrichs so bewußt unterschieden von dunklen Linien mit tiefen Schatten zu zarten, durchsichtigen Strichen. Das Licht fällt von links vorn auf die Gruppe, beleuchtet sind Gesicht und Hals Mariens, das Kind und die von den Knien herabfallenden Gewandbahnen. Wie ein Halt gebendes Gerüst ist dagegen die Vielzahl der dunklen Faltenformen rechts aufgebaut, die im Schatten liegen. Denselben Wechsel vom Dunklen zum Lichten zeigt auch Mariens Haar auf der rechten Schulter, oder, noch erstaunlicher und für die Gesamtkomposition bedeutsamer, der Blumentopf auf der Bank neben Maria: das aus ihm aufsteigende Gitter wechselt von leichten zu starken Strichen, so daß Lichteinfall und Rundung mühelos verständlich werden. Die Feder ist mit so viel Subtilität eingesetzt, daß das Blatt kaum als bloße Vorbereitung eines anderen Werks - Gemälde oder Stich - angesehen werden kann. Wie es scheint, handelt es sich um ein frühes Beispiel einer Zeichnung, die als eigenständiges Kunstwerk entstanden ist.
Auf die Gewohnheit Schongauers, die Komposition mit haarfeinen Federzügen vorzuskizzieren, sei hingewiesen; s. links neben dem Kopf Mariens; der Mittelfinger ihrer die Nelke haltenden Hand war ursprünglich gekrümmt geplant; Gewandecke unten links. Das Sitzen der Himmelskönigin auf einer Rasenbank ist Zeichen ihrer Demut, die Nelke Hinweis auf die Passion Christi.
Text: Hans Mielke in: Das Berliner Kupferstichkabinett. Ein Handbuch zur Sammlung, hg. von Alexander Dückers, 2. Auflage, Berlin 1994, S. 98, Kat. III.11 (mit weiterer Literatur)
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