Selten läßt sich einleuchtender darlegen, wie ein großes Kunstwerk eigenen Bildgesetzen folgt, die nicht die naturalistischer Richtigkeit sind. Dem ersten Blick scheint die Darstellung eine real aufgefaßte Situation wiederzugeben: Maria mit ihrem Kind sitzt in einem leeren Hof; die Mauer hinter ihr fluchtet perspektivisch. Aber wie könnte in der »Wirklichkeit« ein Kopf so groß sein wie die zugehörige Brustpartie, und wie sollten mit diesem zarten Körper so gewaltige Beine zusammenpassen? Die großflächigen Oberschenkel sind Folie für den Jesusknaben, um den in größerem Abstand prachtvolle Falten wie ein Kranz herumgelegt sind. Eine überaus feingliedrige Hand umfaßt von unten das Kind. Wie ein Gestirn darüber stehend das geneigte Gesicht Mariens, von Locken um rahmt, mit schweren Augendeckeln und schmaler Nase. Ein Nimbus schließlich, substantiell, da er die Durchsicht verhindert, gibt Licht und Entrücktheit. Jede Melodie erhält ihren besonderen Charakter durch die Begleitung. Seinen unvergeßlichen Reiz dankt der Stich dem kargen Hof, der hellen Mauer, dem durchsichtigen Bäumchen, Mauerviereck und Tor spielen an auf den »verschlossenen Garten« und das »verschlossene Tor«, Symbole der Jungfräulichkeit Mariens - ihr Paradiesgärtlein wurde stets voller Blumen gezeigt, Schongauer gibt ihn kahl wie einen Gefängnishof. Aber ohne die klaren Linien und stillen, ungefüllten Flächen des Hintergrundes wäre der Kontrast zur kostbaren Marienfigur nicht erreicht worden und damit die einmalige Wirkung des Blattes verloren gewesen.
Text: Hans Mielke in: Das Berliner Kupferstichkabinett. Ein Handbuch zur Sammlung, hg. von Alexander Dückers, 2. Auflage, Berlin 1994, S. 99, Kat. III.13 (mit weiterer Literatur)
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