Maria steht auf einer schlichten, unregelmäßig polygonalen Plinthe, die den Standpunkt des Betrachters nicht eindeutig festlegt. Die Statuette ist allansichtig, Gesten und Gewandmotive fordern zur Betrachtung von allen Seiten auf. Bewegung und Schwung werden wesentlich durch das weit ausgestellte rechte Spielbein bestimmt, unterstützt durch die charakteristischen langen Falten des über die rechte Schulter nach vorn fallenden, schürzenartig vor dem Körper gerafften und unterhalb des Kindes über der linken Hüfte der Mutter gehaltenen Mantels.
Es ist bezeichnend für die frühe Zeit der großen lothringischen Skulpturenproduktion, wie der Bildhauer zahlreiche traditionelle, fest zur Marienikonografie gehörende Bildmotive auf lebendige und zugleich individuelle Weise umzusetzen verstand. Das gilt für das Gewandmotiv oder die Schrittstellung des Kindes, durch die die rechte Fußsohle sichtbar wird – eine Anspielung auf die spätere Kreuzigung und die dort empfangenen Stigmata.
Bei der stehenden Maria mit dem Christuskind handelt sich um ein pretiöses Werk, das der privaten Andacht eines Einzelnen gedient hat. Die Figur enthält zahlreiche formale Elemente kleinformatiger Werke aus kostbaren Materialien wie Elfenbein oder Buchsbaum: neben der sorgfältigen Oberflächenbearbeitung und dem Detailreichtum sind es die Allansichtigkeit und besonders die auffällig unregelmäßige Plinthenform. Sie ist hier nicht durch das Material bedingt, da der Block genügend Fläche für ein regelmäßiges Polygon geboten hätte. Vielmehr soll sie an Elfenbein- oder Buchsbaumstatuetten erinnern, bei denen die optimale Ausnutzung des durch spezifischen Wuchs des Zahns oder Stamms vorgegebenen Blocks oft unregelmäßige Sockelformen zur Folge hatte. Die kostbare Berliner Madonna wird für eine hochstehende Persönlichkeit geschaffen worden sein. Ob es sich um ein Mitglied des „höfischen“ Kreises handelte, vielleicht aus dem Umfeld der in Nancy residierenden lothringischen Herzöge, oder um einen hohen Geistlichen, ist nicht mehr zu klären.
(Auszug aus: Tobias Kunz, Bildwerke nördlich der Alpen. 1050 bis 1380. Kritischer Bestandskatalog der Berliner Skulpturensammlung, Petersberg, Michael Imhof Verlag 2014)
Entstehungsort stilistisch: Lothringen
Entstehungsort stilistisch: Metz
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