Wir sehen ein unspektakuläres Motiv: einen schmächtigen, etwas unsicher wirkenden Jungen auf einem für ihn zu hohen und zu tiefen Stuhl. Unklar ist, ob das Bild unvollendet blieb oder als Ölstudie angelegt wurde. Damals wurde der Begriff des ›Reinmalerischen‹ oder ›Reinkünstlerischen‹ geprägt. Im Gegensatz zum akademischen Stil, bei dem die Schönheit, das Imposante und genau Erfaßte des Gegenstandes den ästhetischen Wert ausmachte, sollte nun die persönliche Pinselschrift und subjektive Handhabung der Spachtel das Interesse an einem Bild begründen. »Meinem Prinzip gemäß kommt es nicht auf das Was an, sondern auf das Wie, zum Leidwesen der Kritiker, Zeitungsschreiber und des großen Haufens, denen das Was die Hauptsache ist, […]« (W. Leibl an die Mutter, 3.6.1876, zit. nach: E. Ruhmer, Der Leibl-Kreis und die reine Malerei, Rosenheim 1984, S. 48).
Das Gesicht des Bauernjungen ist hell in hell gemalt, es gibt kaum Licht und Schatten, wie häufig bei Studienköpfen Leibls zu Beginn der 1870er Jahre. Den unmotivierten Fleck auf dem Oberkörper bemerkt man zunächst ebensowenig wie jenen an der Wand in Menzels »Balkonzimmer« (Nationalgalerie, Inv.-Nr. A I 744). Speziell bedeutet ›rein malerisch‹ auch das Gegenteil von graphisch. Die Form wird nicht durch die Kontur bestimmt, die sogar verschwimmen kann. Der flächenhaft aufgesetzte Pinselstrich bestimmt die Grenze der Form.
Leibl ging es stets allein um das Äußere eines Menschen. Er vermied starke Gestik und jede Seelenmalerei. Einer seiner Kernsätze lautete denn auch: »Ich male den Menschen so wie er ist, da ist die Seele ohnehin dabei« (zit. nach: ebd., S. 52). Das spätere Interesse an Körpersprache hätte ihm Recht gegeben und auf das ungelenk Labile, Langgeschossene und Verletzliche dieses auf dem großen Stuhl mehr hängenden als sitzenden Jungen hingewiesen. | Angelika Wesenberg
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