1911 stellte Lesser Ury eine blonde Frau mit burschikosem Pagenkopf und rotem Kleid in einem Berliner Café dar. Den Kopf zur Seite geneigt läßt sie ihre Blicke schweifen, während hinter ihr zahlreiche andere Gäste in das Studium der Zeitungen vertieft sind. Es gibt in diesen Jahren zahlreiche ähnliche Darstellungen allein in einer Gaststätte sitzender Frauen, bei Ernst Ludwig Kirchner, Leo von König und anderen. Der Gesichtsausdruck der weiblichen Hauptfiguren ist meist versonnen bis ernst, was vielleicht auch auf die Vereinsamung des Individuums in der Großstadtgesellschaft weist. Dem gegenüber steht aber die zunehmende Selbständigkeit der Frauen, die sich nun auch ohne männliche Begleitung an öffentlichen Orten aufhalten konnten. Die Cafés boten eine Umgebung, in der sich private Kontakte ebenso anbahnen ließen wie professionelle Beziehungen. Bereits in Paris zählten die Cafés auch zu den bevorzugten Aufenthaltsorten für Prostituierte, und anhand der Darstellungen läßt sich oft nicht eindeutig entscheiden, welches Interesse die Damen verfolgen und in welchem Verhältnis sie zu ihren männlichen Begleitern stehen. | Dieter Scholz
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