Im XXXV. Buch der »Historia naturalis« erzählt Plinius der Ältere den Abschied der Tochter des Korinther Töpfers Butades von ihrem Geliebten vor einer Reise. Nachdem sie den Umriß seines Schattens an der Wand notiert hat, wird ihr Vater ein Tonrelief verfertigen. Damit sind zuerst die Kunst der Zeichnung, sodann die der Plastik begründet. Dieser Mythos war den deutschen Künstlern aus Joachim von Sandrarts »Teutscher Academie« (1675) vertraut, dem Lesepublikum unter anderem aus Schriften von Herder und Lessing. Er kam der klassizistischen Kunsttheorie entgegen, die darauf beharrte, auch die Malerei von der Linie (statt von der Farbe) herzuleiten – eine Auffassung, zu der sich auch Daeges scharf umrissene, glashelle, ganz auf Lokalfarben eingestimmte Malweise bekennt.
In Berlin erscheint das Thema seit 1790 mehrfach, so bei Bernhard Rode, Franz Ludwig Catel, Johann Gottfried Schadow, Johann Erdmann Hummel. Gewöhnlich ist der Vorgang im Innenraum dargestellt: Plinius erwähnt ausdrücklich eine Lampe. Daege versetzt ihn ins Freie, an einen Brunnen, mit der Sonne als Lichtquelle. Dies entspricht jedoch anderen Lesarten der Sage, nach denen etwa ein Hirte den eigenen Schlagschatten auf dem Boden mit seinem Stab nachzeichnet. Auf Schinkels Entwurf (1830) für das Fresko »Menschenleben« in der Vorhalle des Museums zeichnet der Hirt in freier Natur den Schatten eines Mädchens nach. Doch die Anordnung der Figurengruppe entspricht noch mehr einer Komposition von Joseph-Benoît Suvée (1791, Groeningemuseum, Brügge), die als Kupferstich Verbreitung gefunden hatte. 1840 wandelte Daege seine Komposition für das Hauptmotiv eines allegorischen Album-Titelblattes ab (Bleistift, Kupferstichkabinett, Berlin).
Das Bild entstand im Auftrag des Vereins der Kunstfreunde im preußischen Staat (für 600 Reichstaler) und wurde wohl noch 1832 an die Gattin des Theologieprofessors und Pfarrers an der Berliner Dreifaltigkeitskirche, Philipp Konrad Marheineke, verlost. Später befand es sich im Besitz des Bildhauers Ludwig Wilhelm Wichmann (1788–1859), und kam 1876 als Geschenk seines Sohnes, des Musikdirektors Hermann Wichmann, in die neueröffnete Nationalgalerie, deren Einrichtung Daege als Akademiedirektor dreizehn Jahre lang geleitet hatte. | Claude Keisch
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