Die jugendlich wirkende Maria erscheint mit ihrer stark ausschwingenden linken Hüfte und weit vorgestelltem rechten Fuß in einer lebendigen Bewegung. Das unbekleidete Kind hält sie hoch über ihrer linken Hüfte, ihre Hand liegt an dessen linkem Knie. In der verlorenen, ursprünglich erhobenen Rechten befand sich ein Gegenstand, Blüte oder Apfel, den das Kind mit zur Seite gelegtem Kopf fixierte – ein heute nicht mehr direkt erkennbares Blickmotiv. Auch Maria hält ihr Haupt geneigt, nähert sich somit dem Jesusköpfchen an, schaut jedoch an diesem vorbei nach vorn, auf den vor ihr stehenden Betrachter herab. Von großer Wirkung ist die reiche und differenzierte Gewandgestaltung, auch aufgrund der hier weitgehend erhaltenen Originalfassung. Für ein Tonbildwerk erstaunlich sind die ausgreifenden Stoffe und tiefen Aushöhlungen, die die Standfestigkeit des Materials vor und seine Haltbarkeit bei dem Brand auf eine riskante Probe stellten.
Die Figur ist rückseitig hohl. Gut nachvollziehbar ist daher das Bemühen des Künstlers, die Wandung möglichst dünn zu gestalten und somit ein Reißen beim Brand zu verhindern. Spuren eines Verschlussbretts oder des Ansetzens einer ausgearbeiteten Rückseite sind nicht zu erkennen. Deshalb dürfte die Madonna in einem Schrein gestanden haben, der die Einsicht im Vollprofil verhinderte. Die Komposition der Figur ist in sich abgeschlossen, daher muss sie nicht von anderen Figuren flankiert worden sein, sondern könnte durchaus alleine in einem hochrechteckigen Schrein platziert gewesen sein. Auffällig sind die bei der Restaurierung 1962 bis 1965 freigelegten zahlreichen, zum Teil ziemlich kostbaren Überfassungen (bis zu zwölf!) besonders aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Daraus ist zu schließen: Die Figur befand sich wohl im Innenraum einer Kirche; außerdem erfuhr sie eine anhaltende Wertschätzung als Kultobjekt in der Neuzeit, dürfte also zumindest in der Barockzeit in einem katholischen Gotteshaus gestanden haben.
(Auszug aus: Tobias Kunz, Bildwerke nördlich der Alpen und im Alpenraum 1380 bis 1440. Kritischer Bestandskatalog der Berliner Skulpturensammlung, Petersberg, Michael Imhof Verlag 2019)
de