1926 besuchte die Fotografin Germaine Krull Delaunay in seinem Pariser Atelier. Im dramatischen Licht einer elektrischen Lampe gelang ihr eine bemerkenswerte Aufnahme: Sie zeigt den französischen Maler, der rittlings auf einer Leiter sitzt und sein noch unvollendetes Gemälde „Eiffelturm“ aus einer Höhe von etwa drei Metern betrachtet (Abzug in der Stiftung Ann und Jürgen Wilde, Pinakothek der Moderne, München). Um jene Zeit schloss Delaunay seine zwei Jahrzehnte andauernde Beschäftigung mit dem Wahrzeichen von Paris ab. Nachdem er den Turm erstmals 1909 gemalt hatte, entstanden in den 1910er-Jahren die kubistisch beziehungsweise orphistisch inspirierten Serien „Der Eiffelturm“ und „Die Fenster“, in denen er anhand des Motivs optische Wahrnehmungsprozesse analysierte. Während diese Gemälde die ungeheure alltägliche Präsenz des Bauwerks im Stadtbild zeigen, da sie stets den Blick aus Pariser Wohnungen wiedergeben, wählte Delaunay für seine letzten Ausführungen die Vogelperspektive. Jener Blickwinkel geht nicht allein auf seine Flugbegeisterung zurück – unter anderem hatten ihn aus einem Heißluftballon aufgenommene Fotografien von André Schelcher und Albert Omer-Decugis dazu inspiriert –, sondern auch auf die perspektivischen Experimente des Neuen Sehens, die in den 1920er-Jahren in Fotografie, Film und Malerei aufgegriffen wurden. In ihrem Atelierfoto doppelte Krull diese Perspektive, indem sie ihrerseits den Maler vor seiner Leinwand in Aufsicht abbildet, sodass Delaunay wie ein Vogel auf sein Motiv hinabzuschauen scheint. | Nina Schallenberg
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