Gaul revolutionierte die Tierbildhauerei wie kein anderer Künstler am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts. Seine Konzentration auf rein formale Aspekte und die Befreiung der Tierdarstellung von jeglichem inhaltlichen Pathos wurden vielen anderen zum Vorbild und sorgten für Anerkennung der bis dahin bei Kritikern und Sammlern nur gering geschätzten Gattung. Entsprechend umfangreich ist der Bestand von Werken Gauls in der Sammlung der Nationalgalerie. Der „Stehende Löwe“ ist eine überarbeitete Fassung des „Löwen“ von 1903/1904 (B I 211). Er variiert die einst wellig ausgestaltete Standfläche zu einer regelmäßig gestuften Plinthe, auf deren erhöhtem Ende der Löwe frontal ausgerichtet und nun ohne Schrittmotiv steht. Kräftig gewölbte und klar definierte Volumina unterstreichen den kraftvollen Ausdruck, ohne die strenge Silhouette des wachenden Tieres zu stören. Gaul entwickelte das Modell des Löwen ab 1908 im Rahmen eines Denkmalsauftrags der Stadt Posen (heute Poznań) für den Gründer und von 1881 bis 1907 amtierender Direktor des dortigen Zoos, Robert Jäckel. Mit dem ersten Guss 1910 war die Entwurfsphase abgeschlossen. Drei weitere Güsse sind belegbar, darunter jener der Nationalgalerie. Entgegen den Angaben des Enkels Curt Reinheldt ist bei vorliegendem Exemplar nicht von einem posthumen, sondern von einem zu Lebzeiten Gauls ausgeführten Guss noch ungeklärter Provenienz auszugehen, den Reinheldt der Nationalgalerie (Ost) 1954 verkaufte. | Yvette Deseyve
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