Eines der ganz vollkommenen Meisterwerke des jungen Dürer, entstanden zwischen 1492, seinem Aufenthalt in Colmar bei den Brüdern Martin Schongauers (dieser selbst war im Vorjahr gestorben, so daß der wandernde junge Dürer ihn nicht mehr lebend angetroffen hatte), und Herbst 1494, seinem Aufbruch aus Nürnberg zur ersten Italienreise. Der Typ Mariens, mit offenen Haaren auf einer Rasenbank sitzend, von reichen Falten umspielt, ist ohne Schongauer nicht denkbar, doch jeder Strich Dürers ist eigen und voll Leben: Mariens Hand, die eine Nelke hält, vor der feinen Brustfältelung; die Hand Josephs, in die er seinen Kopf stützt; die zu Joseph hinüberreichende Ecke des Gewandes, auffällig scharf wie mit dem Messer geschnitten. Das ungewöhnliche Motiv des demütig am Boden sitzenden Joseph ist wohl angeregt von einem Stich des Hausbuchmeisters, der es motivierte mit einem Spiel zwischen Vater und Kind. Für diese scherzende Haltung hatte Dürer offenbar keinen Sinn; sein Joseph ist müde eingeschlafen, Maria hoheitsvoll wie bei Schongauer. Eine bedeutende Leistung ist die überzeugende Tiefenerstreckung der gezeichneten Landschaft, die vor allem durch geschickte Anordnung der Bäume gelingt.
Text: Hans Mielke in: Das Berliner Kupferstichkabinett. Ein Handbuch zur Sammlung, hg. von Alexander Dückers, 2. Auflage, Berlin 1994, S. 108f., Kat. III.28 (mit weiterer Literatur)
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