Das graphische Hauptwerk Schongauers. In Format und künstlerischem Ehrgeiz der bedeutendste Kupferstich seiner Zeit. Der vorüberziehende Menschenstrom ist schwer überschaubar und so reich an Details, daß das Auge ihn nur langsam >lesen< kann. Es ist, als sollten wir noch einmal den heiligen Augenblick erleben. Zentrum der Darstellung und einziger ruhender Punkt ist das Antlitz Christi, das dem Betrachter ganz zugekehrt ist, erinnernd an den Abdruck auf dem Schweißtuch der Veronika. Der Blick Christi in unsere Augen verbindet uns mit ihm, eine Verbindung, die keiner der blind ins Leben Verstrickten auf dem Stich wahrnimmt. Mit allen Betrachtern durch die Jahrhunderte ist und wird dies so geschehen; Christus der Leidende ist auch der Zeit entrückt, und wir, mitleidend in dem Ansatz von Identifikation mit ihm, sind befähigt und gewürdigt, das grausame Geschehen ebenfalls mit tieferer Einsicht zu beobachten, den lauten, bösen Spuk des Lebens, in dem das Göttliche von den meisten unbemerkt bleibt.
Die Schilderung der Einzelheiten ist von extremer Realitätsliebe, wie etwa die Maserung des Kreuzholzes schnell zeigt. Zwei Personen zerren Christus am Seil bzw. Gewand nach vorn, über ihm brüllt einer, der den Kreuzstamm umfaßt und weiterschiebt; von hinten schlägt ein an derer mit einem Strick auf ihn ein. Unmittelbar hinter diesem erscheint ein Gesicht parallel zum Pferdekopf, Joseph von Arimathia, der aus Barmherzigkeit hinzusprang und das Kreuz tragen half. Links über Christi Kopf in einer Hand die Nägel, die ihn durchbohren werden. Nach links zwei Reiter, vor ihnen die bereits entkleideten Schacher, rechts neben dem vorderen Reiter Maria verhöhnt. Rechts hinter ihr im engen Felsweg noch einmal die ganze Gruppe der Trauernden, klein wie in weiter Ferne. Von links her verdunkelt sich der Himmel, entsprechend dem Bibeltext.
Text: Hans Mielke in: Das Berliner Kupferstichkabinett. Ein Handbuch zur Sammlung, hg. von Alexander Dückers, 2. Auflage, Berlin 1994, S. 99f., Kat. III.14 (mit weiterer Literatur)
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