Man wird kaum ein überzeugenderes Beispiel finden, wenn man darlegen will, wie ein inspirierter Zeichner einen Entwurf aufs Papier setzt, scheinbar ohne zu denken, mit nachtwandlerischer Sicherheit, schnell, geleitet vom genauen Gefühl für Länge, Richtung und folglich Wirkung jedes Strichen, die alle parallel laufen, keine naturalistische Form andeuten, dennoch sich wie windbewegt nach allen Seiten ausbreiten, so daß Datum und Monogramm für das Auge noch zum Baum gehören. Josephs Gesicht, so unauffällig es ist, wurde in die andere Richtung schraffiert. Die Verbindung vom Laubdach zur Hauptgruppe leisten einige Parallel-Linien von unerhörter Lebendigkeit, motiviert als dicker Baumstamm und dürres Astwerk. Einige Grasrispen nehmen dem Eintauchen der Baumgruppe in die vielfältige Schraffur von Boden und Gewand Mariens alle Strenge. Der Wechsel von Licht und Schatten an den heiligen Personen, das fortwährende Umschlagen der Richtung bei allen Schraffuren im unteren Bereich, das Auslaufen dieser Schattenzonen in gerundet durchsichtigen Formen, Gräsern und Steinen rechts muß man verfolgen, um die Meisterschaft des Blattes zu verstehen. Die Horizontlinie am Fuß der Berge, in Höhe von Mariens Kopf, betont eine breite Stadtandeutung. Wäre Joseph weiter ausgeführt worden, wäre die Beziehung der beiden Schattenzonen gestört, der leichten im Baum und der schwereren am Boden.
Text: Hans Mielke in: Das Berliner Kupferstichkabinett. Ein Handbuch zur Sammlung, hg. von Alexander Dückers, 2. Auflage, Berlin 1994, S. 115 Kat. III.35 (mit weiterer Literatur)
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