Als Werefkin 1918 nach Ascona umzog, war dort die große Zeit der Lebensreformer, die im Jahr 1900 begonnen hatte, bereits vorbei. Dennoch umwehte die Region um den Monte Verità, dessen Gebäude zwischenzeitlich als Hotel genutzt wurden, noch immer ihr unkonventioneller Hauch, der weiterhin Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle anzog. 1924, als das Gemälde „Prozession bei Ascona“ vermutlich entstand, gründete Werefkin dort die Künstlergruppe Der Große Bär. Auch moderne Tänzer wurden von der Region um den Monte Verità angezogen. Bereits in den 1910er-Jahren entstand die Sommerschule Rudolf von Labans, in den 1920er-Jahren dann das Tanztheater Charlotte Baras in San Materno. Werefkins Bild konzentriert sich jedoch nicht auf die zugezogene Bohème, sondern auf das dörfliche Leben der Einheimischen und die Bergwelt, welche die Künstlerin seit ihrem Umzug nach Ascona kontinuierlich malte. Es besticht insbesondere durch seine Perspektive, die die Häuser des kleinen Ortes – im Gegensatz zu der Kirche im Vordergrund – und die Menschen winzig aussehen lässt. Die Prozession sowie die umstehenden Gebäude werden in das Gebirge aus Rot-, Braun- und Gelbtönen nahezu hineingesogen, während die Spitze des Berges ganz rechts in goldenes Abendlicht getaucht ist. Werefkin hatte zwar bei dem Maler Ilja Repin eine klassische Kunstausbildung erhalten, doch ihre intensive Auseinandersetzung mit moderner Kunsttheorie, mit Farb- und Lichtgestaltung ließ sie einen neuen Malstil entwickeln, wobei Edvard Munch und Henri de Toulouse-Lautrec zu ihren Vorbildern gehörten. In Ascona verbrachte sie ohne ihren langjährigen Partner, den Maler Alexej von Jawlensky, ihre letzten Lebensjahre. Sie starb dort am 6. Februar 1938. | Anja Pawel