Nach dem frühen Tod Franz Pforrs erhielt der Bund der sogenannten Nazarener nicht zuletzt durch Peter Cornelius, der Ende 1811 nach Rom kam, Aufschwung und neue Zielstrebigkeit. In ihrer Werkstattgemeinschaft, die nach mittelalterlichem Vorbild gemeinsame Interessen verband, belebte er vor allem den Gedanken einer Erneuerung der Monumentalmalerei. Beeindruckt hatte er den Freundeskreis zunächst mit sieben großen Zeichnungen zu Goethes Faust, die er aus Frankfurt am Main mitgebracht hatte und als Stichvorlagen zu einer Suite von zwölf Blättern zu erweitern gedachte. Auch Goethe, dem Sulpiz Boisseree diese ersten, sorgfältig mit Feder in grauer Tusche ausgeführten Zeichnungen in Weimar vorgelegt hatte, spendete Lob (vgl. seinen Brief vom 8. Mai 1811 an Cornelius, zitiert bei Ernst Förster, Peter Cornelius, Berlin 1974, Bd. 1, S. 80). In Rom vollendete Cornelius die restlichen Blätter noch bevor er 1815 mit seiner Arbeit an den beiden Wandbildern zur Josephsgeschichte in der Casa Bartoldy begann. 1816 erschien die von Ferdinand Ruscheweyh gestochene Folge bei Friedrich Wenner in Frankfurt am Main. Der nicht rechtzeitig fertiggewordene »Osterspaziergang« erschien von Julius Thaeter gestochen erstmalig 1825 in der Neuauflage in Berlin.
In seinem Willen, die Kunst durch Rückbesinnung auf altmeisterliche Tradition zu erneuern, dabei Vergangenheit und Gegenwart mit höchster geistiger und künstlerischer Kraft verbindend, muß man dieses Werk als Inkunabel nazarenischer Zeichenkunst betrachten. Vor allem Dürer war das inspirierende Vorbild für Cornelius, das ihn zugleich zwang, Eigenes, den Goetheschen gegenwärtigen Gedankenbildern Adäquates, zu schaffen. In der Ausführung war Cornelius sorgfältig bemüht, bereits im Zeichnerischen den gebundenen Charakter des Kupferstiches zu treffen. Zuerst wurden feine Bleistiftstudien gemacht (zwei befinden sich im Städelschen Kunstinstitut Frankfurt am Main, eine davon zu unserer Szene), danach Federzeichnungen in Umrissen. Kräftig und spontan wirkend, fixierten diese bereits ganz exakt Größe und Proportionen der Komposition, um als Modell dienend auf das letzte Blatt übertragen zu werden. Dort wurde die Zeichnung mit feinster, modellierender Binnenzeichnung ausgeführt mit der Feder vollendet. In unserem Blatt muß man eine solche Modellzeichnung sehen. Im Charakter ähneln diese den virtuosen Umrißzeichnungen Franz Pforrs zu Goethes »Götz von Berlichingen« von 1810, von denen aber unbekannt ist, ob Cornelius sie kannte. (Weitere Federumrißzeichnungen: Zur Szene »Zwinger« mit Gretchen vor der Mater dolorosa, Kupferstichkabinett Berlin; zum Titelblatt, Städelsches Kunstinstitut, wo sich außer den erwähnten Bleistiftentwürfen alle 12 ausgeführten Federzeichnungen befinden.)
Die kurze Szene von sechs Versen »Nacht, offen Feld«, die auf unserer Umrißzeichnung Faust und Mephisto »auf schwarzen Pferden daherbrausend« zeigt, wie Goethe anweist, liegt zwischen den Szenen »Trüber Tag«, der der Walpurgisnacht folgt, und »Kerker«. Sie wurde bereits 1808, als der erste Teil des Faust erschien, von einem gewissen »Osiander« als eine von vier Szenen illustriert. Cornelius´ Zeichnung verbindet Fausts Frage: »Was weben die dort um den Rabenstein?« mit Fausts Vision, die ihm gegen Ende der Walpurgisnacht das Gretchen auf dem Gang zur Hinrichtung vorgegaukelt hatte; diese war es, die ihn Mephistopheles verfluchend, seine eigene Schuld gewahr werden ließ, um daraufhin den Teufel zur Rettung treibend, auf dessen Zauberpferden zum Kerker zu fliegen.
Text: Marie Ursula Riemann-Reyher in: Das Berliner Kupferstichkabinett. Ein Handbuch zur Sammlung, hg. von Alexander Dückers, 2. Auflage, Berlin 1994, S. 368, Kat. VII.14 (mit weiterer Literatur)