Ein unbekleideter Mann mit schemenhaften Gesichtszügen, auf dessen linkem Schenkel ein Klumpen - der Ton des Bildners? - ruht, setzt mit mühevoll-überspannter Geste seinen linken Fuß auf einen hohen Felsblock, während die rechte Hand untätig herabhängt. Über ihm schwebt in richtungslosem Flug ein proportional erheblich kleinerer weiblicher Genius mit Schwingen, dem aber Kopf und Arme fehlen. Der kleine kindliche Frauenleib verkörpert Inspiration und Muse, geistige Flüchtigkeit und körperliche Berührung, Instabilität und Unvollkommenheit. Das Zusammenspiel beider Figuren ist deutbar als ein Sinnbild der künstlerischen Inspiration. Auch der Dichter Hugo von Hofmannsthal, der die Statuette zwischen 1900 und 1920 besaß und auf seinem Schreibtisch plazierte, mag sie als Metapher des künstlerischen Schaffens mit seinen Unwägbarkeiten und seiner Abhängigkeit von inspirierenden Musen gedeutet haben. - Den Entwurf dieser Statuette, von der zwei weiteren Güsse (San Francisco und Philadelphia) bekannt sind, bearbeitete Rodin später weiter. Als Abwandlung folgte um 1896 das thematisch vergleichbare Gipsrelief "Le Poète et l´Amour" im Philadelphia Museum of Art. Dann bearbeitete Rodin das Sujet erneut 1912 für ein geplantes Denkmal des mit ihm befreundeten Malers Eugène Carrière. Derartige Rückgriffe auf ältere Ideen, Figuren und Kompositionen finden sich in Rodins Schaffen häufig, ebenso wie die collagierende Verarbeitung von Einzelfiguren, die sich schon durch ihre Proportionen als nicht ursprünglich zusammengehörend erweisen. | Bernhard Maaz
Erwerbungsort: Rodaun
Erwerbungsort: Wintrthur