Dieses außergewöhnliche Blatt wurde von Philipp Pouncey als Werk Vasaris erkannt (Aufschrift auf der Unterlage), blieb aber bislang unpubliziert. Dies mag auch an der Schwierigkeit liegen, den Entwurf mit einem ausgeführten Werk – aufgrund der extremen Untersicht der Komposition darf man wohl an ein Deckengemälde denken – in Verbindung zu bringen. Von Vasari sind in der Tat einige Verkündigungsdarstellungen, Gemälde und Zeichnungen, bekannt und alle enthalten sie Elemente, die Details auf diesem Blatt durchaus ähnlich sind, doch insgesamt zu wenig, um konkrete Anknüpfungspunkte zu bieten. Eine Datierung in die Jahre nach dem Aufenthalt Vasaris in Venedig 1541/42 erscheint am wahrscheinlichsten. In diesen Jahren beginnt Vasari, auch farbige Papiere, wie hier eine carta azzurra, für seine gezeichneten modelli zu verwenden (vgl. F. Härb: Theorie und Praxis der Zeichnung bei Giorgio Vasari, in: Zeichnungen aus der Toskana. Das Zeitalter Michelangelos, hrsg. von E.-G. Güse und A. Perrig, München 1997, S. 50-63, S. 59), welche zusammen mit den mit dem Pinsel aufgetragenen Lavierungen und Weißhöhungen eine äußerst malerische Wirkung erzielen. Die herausragende Eleganz und Frische des Blattes erinnert zudem an eine von Catherine Monbeig-Goguel in diese Jahre datierte Zeichnung im Louvre (Inv. 2086) mit der Anbetung der Hirten, in welcher das Gesicht Mariens eine große Ähnlichkeit zum Antlitz der Jungfrau im vorliegenden Werk aufweist. Die Intensität des Ausdrucks und die energiegeladene Spannung, die zwischen den Protagonisten entsteht, erreichte der Künstler hier durch Reduzierung auf das Wesentliche. Architektonische Elemente wie die kassettierte Decke, das Portal im Hintergrund und der zeltförmige Baldachin verstärken und unterstreichen die Klarheit der Komposition.
Text: Dagmar Korbacher in: Heiko Damm & Dagmar Korbacher, Das Jahrhundert Vasaris. Florentiner Zeichner des Cinquecento, hg. vom Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin, Berlin 2011, S. 39, Kat. 16