Der Österreicher Ludwig Kasper hatte 1925 sein Studium an der Akademie der bildenden Künste in München abgeschlossen und arbeitete nach einem Studienjahr in Paris zwischen 1930 und 1933 im schlesischen Berna auf dem Gut der Familie seiner Frau, der Malerin und Bildhauerin Ottilie Kasper. Die „Stehende I“ ist eine von Kaspers frühesten erhaltenen Skulpturen. Sie zeichnet sich durch ihre statuarische Haltung und ausdrucksvollen, reduziert eingesetzten, stilisierten Gesten aus, die typisch für den Bildhauer werden sollten. In seinen Arbeiten ging es Kasper um die Geschlossenheit der Form, die sich in einem additiven Aufbau äußert. Die Auseinandersetzung mit der griechisch-archaischen Plastik der Antike ist in seinen Werken offenkundig. Werner Haftmann beschrieb Kaspers Skulpturen und die anderer jüngerer Künstler 1934 als ein Zurückgehen zu den strukturellen Eigenheiten der Bildhauerei, die sich in der Darstellung „einfacher, frontaler Motive, des Stehens, Sitzens und Schreitens [äußerten], die, im Motiv unaktiv, den Begriff der reinen, für sich bestehenden Form nicht angreifen“ (Werner Haftmann, Grundsätzliches über die neue Bildhauerei, in: Kunst der Nation, 11. Jg. [1934], H. 17, S. 2). Die Nationalgalerie besitzt zwei Versionen der „Stehenden I“. Die Stukkofassung (B III 134 a) wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zusammen mit der „Schreitenden I“ (B III 38 a) aus dem mittlerweile zerstörten Haus der Ateliergemeinschaft Klosterstraße geborgen, in dem Kasper seit 1933 zusammen mit Künstlern wie Hermann Blumenthal, Werner Heldt und Werner Gilles ein Atelier genutzt hatte. Bis 1971 verblieb die Stukkofassung zur Aufbewahrung in der Nationalgalerie (Ost). In jenem Jahr fertigte man mit Erlaubnis der Witwe des Künstlers einen Bronzeguss davon an und erwarb diesen für die Nationalgalerie. Auch die Stukkoplastik verblieb dort. | Maike Steinkamp