Auf Wunsch des preußischen Generalfeldmarschalls August Graf Neidhardt von Gneisenau schuf Schinkel 1813 das Gemäldepaar »Der Morgen« und »Der Abend« (letzteres ehemals Nationalgalerie Berlin, Kriegsverlust, heute Kunstmuseum Lviv, Ukraine). Bereits zwei Jahre zuvor befaßte er sich in zwei großen Federzeichnungen mit den Motiven der Tageszeiten (Kriegsverlust, heute Eremitage, Sankt Petersburg). Viele Künstler der Romantik, neben Schinkel vor allem Philipp Otto Runge und Caspar David Friedrich, griffen dieses Thema des Zeitenwandels wiederholt auf, wohl auch, um über die gesellschaftlichen Umbrüche des frühen 19. Jahrhunderts zu reflektieren. In Schinkels »Der Morgen« sind zwei in Renaissancekostüme gekleidete Frauen dargestellt, die mit ihren Kindern einem Buchenhain entgegenwandern. Warmes, sommerliches Morgenlicht flutet durch die üppigen Baumkronen, hinter denen bereits die Sonne steht. Unter den Buchen spielen Kinder im Gras, während am rechten Rand des Hains zwei Reiter erscheinen. Über die antiken, von Pflanzen überwucherten Architekturfragmente links im Vordergrund geht der Blick in die Ferne. Dort weitet sich bis zum Horizont das Meer, an dessen Küste liegt eine Stadt mit prächtigen Kuppeln im Stil der italienischen Renaissance. Das Gemälde weist vielfältige geschichtliche Bezüge auf; in der Rückbesinnung auf große Epochen der Vergangenheit offenbart Schinkel in dieser ›historischen‹ Landschaft seine Vision einer gesellschaftlichen Erneuerung Deutschlands. 1813, während der Freiheitskriege, gemalt, vermittelt »Der Morgen« patriotische Aufbruchsstimmung. Noch deutlicher wird diese Programmatik mit Blick auf das verlorengegangene Gegenstück »Der Abend«, in dem zwei Adler bei Sturm über einem von Eichen umstandenen Fels schweben. Die beiden Bilder sollten den Anbruch eines neuen Zeitalters nach stürmischer dunkler Nacht verkünden. | Birgit Verwiebe
SIGNATUREN UND INSCHRIFTEN
Bez. links unten (an der Säule): Schinkel inv. 1813
Provenienz
– Graf August von Gneisenau
– Nachfahren Graf August von Gneisenau (Nachlass/Vermächtnis)
– bis 29.9.1911 Bruno Cassirer, Berlin
– 1911 Geschenk von Bruno Cassirer, Berlin