Im Jahr 1913 war Kirchners Berliner Großstadtexpressionismus voll ausgeprägt. Der sichtbare Pinselstrich ist kleinteilig und vermittelt eine nervöse Unruhe, während die vielen spitzen Dreiecke und kantigen Winkel die aggressive, gefährliche Stimmung der Metropole ausdrücken. Auch die Farbigkeit verbildlicht die großstädtische Atmosphäre: Düster und mit Schwarz abgemischt ist ein staubig angeschmutzter Klang entstanden, von dem sich einzelne Farben glühend absetzen. Mit dem Bildnis seiner Lebensgefährtin Erna Schilling (1884–1945) hat Kirchner ein eindringliches Porträt des modernen Großstadtmenschen geschaffen. Bleich und kränklich erscheint Ernas Gesicht, gezeichnet von ausschweifenden nächtlichen Vergnügungen und Existenzängsten zugleich. Der elegante und opulent geschmückte Hut sowie das extravagante Reformkleid weisen sie als selbstbewusste Frau auf dem neuesten Stand ihrer Zeit aus. Ernas Blick jedoch nimmt keinen Kontakt zum Gegenüber auf, sondern ist abgeklärt und fahrig in eine unbestimmte Ferne oder aber in die Innerlichkeit gerichtet. Nachdenkliche Melancholie paart sich mit einsamer Isolation – die Abgründe der urbanen und fortschrittlichen Lebenswelt mit dem Verlust der menschlichen Nähe werden sichtbar. | Janina Dahlmanns