Die Ikonographie der eigenartigen Darstellung ist eine Verbindung aus dem sogenannten Christus in der Rast, in dem die Verlassenheit nach der Flucht der Apostel und nach der Geißelung thematisiert ist, und der Vorbereitung zur Kreuzigung, wo Christus, bereits entkleidet, auf dem Kreuz sitzt, während Nagellöcher ins Holz gebohrt werden und die Grube für den Kreuzstamm ausgehoben wird. Die letztgenannte Ikonographie begegnet mehrfach in Zeichnungen der Werkstatt des älteren Holbein. Unser Blatt verwendet das sprechende Motiv des Sitzens auf dem Kreuz, zeigt Christus aber verlassen; die Nachbarschaft zu dem besonders im deutschen Spätmittelalter so geläufigen Thema des Schmerzensmannes wird so noch näher als bei den genannten Themen. Die Isolierung der einzelnen Figur erlaubt es Holbein, sie in eine konzentrierte Komposition einzufügen, bei der nicht nur der direkte Ausdruck von Gesicht und Körper spricht, sondern auch Elemente wie das Einzwängen der Figur zwischen oberem und unterem Bildrand und der dunkle Schatten neben ihr. Eine bemerkenswerte Wirkung von abstrakter Qualität geht von der riesenhaften Jahreszahl in Deckweiß aus, die kompositorisch nicht fehlen dürfte.
Der jüngere Holbein, der 1515 nach Basel zog, kam dort über Urs Graf mit der von Baldung und Niklaus Manuel geübten Technik der Clair-Obscure-Zeichnung in Berührung. Zusammen mit der ebenfalls 1519 datierten Madonna in Leipzig zeigt unser Blatt, wie Holbein gleichzeitig und in der gleichen Technik unterschiedliche Stile anzuwenden vermag.
Text: Gero Seelig in: Das Berliner Kupferstichkabinett. Ein Handbuch zur Sammlung, hg. von Alexander Dückers, 2. Auflage, Berlin 1994, S. 134f., Kat. III.62 (mit weiterer Literatur)