Begas beschäftigte sich wiederholt mit der alttestamentarischen Erzählung um Kain und Abel. Entgegen dem häufig auf die Dramatik des Brudermords reduzierten Motiv hat er in dieser Marmorgruppe eine deutlich komplexere Interpretation gewählt. Der Bildhauer psychologisierte eindrücklich die Darstellung der beiden bei der Urmutter lagernden Kinder. Während Abel eher beiläufig gestillt wird, versucht sein älterer Bruder Kain, den Säugling mit seinem linken Fuß beiseite zu schieben. Ist die Geste auch subtil formuliert, verweist der mürrische Gesichtsausdruck auf die offensichtlich bereits angelegten Eigenschaften Kains als Neider und späteren Mörder. Begas stützte sich für die monumentale Gruppe kompositionell auf sein Sockelrelief „Die Natur“ (1880–1882) am Denkmal Alexander von Humboldts vor der Berliner Universität. Während dort das Relief einer klassischen Allegorie gleicht und die wachsenden Kräfte der Natur feiert, deutete der Bildhauer hier auch die in der Natur angelegten negativen Eigenschaften und den oft rohen Überlebenskampf in einem Psychogramm der Kinder aus. Nach dem Tod des Künstlers wurde die Marmorausführung auf zwei Nachlassversteigerungen 1912 vergeblich angeboten. Die Auktionskataloge publizierten fälschlicherweise das Entstehungsdatum 1885, nachweislich handelt es sich aber um ein späteres Werk, bei dem Begas sein Gehilfe Albert Geritz zur Seite stand. Das Relief des Humboldt-Sockels, aber auch eine Bleistiftskizze aus der Zeit um 1860 (Kupferstichkabinett, Berlin) belegen, dass sich der Bildhauer mit diesem Thema über mehrere Jahre auseinandergesetzt hatte. | Yvette Deseyve