Johannes sitzt schreibend und mit gesenktem Haupt auf einer Thronbank mit profilierten Seiten und glatter Rückwand. Die blockhafte Komposition und klare Ausrichtung auf die drei wichtigsten Ansichtsseiten verrät einiges über die Arbeitsweise des Bildschnitzers, die an die architektonisch geprägte Auffassung eines Steinmetzen erinnert. Das konzentriert wirkende Gesicht wird seitlich gerahmt von stark gelockten und voluminösen Strähnen und oben von eingerollten Locken, die wie das flache Haar auf der Kalotte relativ grob gerillt sind.
Die Übernahme von Kompositionsprinzipien von einem anderen Bildtyp, dem der thronenden Muttergottes mit Kind, erklärt sich durch die Seltenheit des Themas in der Holzskulptur. Darstellungen des schreibenden Evangelisten Johannes sind zwar seit dem frühen Mittelalter geläufig, doch in erster Linie in der Buchmalerei und Elfenbeinkunst, nicht aber als plastisches und schon gar nicht als Einzelbildwerk, als das man die Berliner Statue möglicherweise ansehen muss.
Auf der Brust befindet sich eine Vertiefung, in der über einem roten Papier ein durchsichtiger Stein oder Glas, vielleicht sogar eine Reliquie eingelassen war. Handelte es sich um ein Reliquiendepositorium, wäre dies ein Indiz für einen Altarzusammenhang. In Frage kommen Kirchen in oder um Arras, zum Beispiel der schon früher bezeugte, Johannes und Matthäus geweihte Altar in der Abteikirche Saint-Vaast.
(Auszug aus: Tobias Kunz, Bildwerke nördlich der Alpen. 1050 bis 1380. Kritischer Bestandskatalog der Berliner Skulpturensammlung, Petersberg, Michael Imhof Verlag 2014)
Entstehungsort stilistisch: Nordfrankreich
Entstehungsort stilistisch: Arras